Von Ivo Bachmann*
Ein Kinderferienlager um 1950. Eine währschafte Fleischsuppe, ein dickes Stück Brot. Ob dem Mädchen das Essen wirklich schmeckt, wissen wir nicht. Vorsichtig nippt es am Löffel – vielleicht ist die Bouillon noch heiss –, den Kopf hält es leicht über den Teller geneigt. Ein Latz schützt den Wollpullover – für den Fall, dass ein Missgeschick passiert. Denn Suppelöffeln ist eine Kunst für zappelige Kinderhände. Husch, husch ist ein Gutsch Bouillon verschüttet und rinnt übers Kinn in den Kragen.
Essen am Tisch – das will geübt sein. Zumindest war es damals so. Um 12 Uhr gab es Mittagessen, um 18 Uhr das Abendbrot. Beide Mahlzeiten wurden in der Regel mit einem Tischgebet eröffnet und durch die Mittags- und Abendnachrichten aus dem Radio begleitet. Was auf den Teller kam, sollte gegessen werden – oder zumindest probiert. Jeder Freitag war fleischlos: Hin und wieder gab es Fisch, oft jedoch Fruchtwähen, Vogelheu oder andere Süssspeisen. Das war für Kinder ein kulinarischer Freudentag. Ganz im Gegensatz zu den schweren Mahlzeiten mit Kutteln, Rosenkohl, Speck und Bohnen. Daran kaute ein Kindermund fast stundenlang und brachte doch kaum einen Bissen in den Magen.
Zu guten Tischsitten gehörten gute Manieren. Die Hände waren stets gewaschen, Ellbogen gehörten nicht auf den Tisch. Finger ablecken oder in der Nase bohren war erst nach dem Essen möglich. Vor allem jedoch: Bloss nicht schmatzen und schlürfen am Tisch oder reden mit vollem Mund! Wobei Kinderaugen und Kinderohren schnell merkten, dass diese Regel auch nicht für alle Erwachsenen galt.
Doch warum sollten wir eigentlich nicht schmatzen und schlürfen und rülpsen dürfen? Und warum sassen wir überhaupt so brav um den Tisch? Über tausend Jahre lang pflegte man in manchen Kulturen im Liegen zu essen, etwa im Orient, im antiken Griechenland oder im alten Rom. Ob Jesus und seine Jünger sich für ihr letztes Abendmahl also «zu Tisch begaben» oder «zu Tische legten» – wie man je nach Übersetzung der Bibel lesen kann –, bleibt eine offene Frage. Erst fast 500 Jahre später, mit dem Untergang des Römischen Reiches, soll bei Essensritualen die Liege allgemein durch den Stuhl ersetzt worden sein.
Viele unserer heutigen Tischsitten sind eher neueren Datums. Noch im Mittelalter wurde hierzulande ungeniert mit den Fingern gegessen, Brotschnitten dienten als Teller, nur selten gab es Löffel und Messer. Den Mund wischte man sich mit der Hand oder am Ärmel ab, die Finger irgendwo an der Kleidung. Im 11. Jahrhundert soll sich dies allmählich geändert haben. Denn seither sitzen bei uns meist nicht nur Männer, sondern auch Frauen am Tisch. Paare teilten sich fortan also Becher und Schüsseln. Neue Tischregeln wurden eingeführt, die Sitten kultivierter.
Doch was heisst schon kultiviert? Was hierzulande verpönt ist, gehört andernorts zum feinen Geschmack oder zum guten Ton. In Indien isst man traditionell ohne Besteck mit der (rechten) Hand. In China kann mit offenem Mund gekaut, darf geschmatzt und gerülpst werden. In Japan werden Suppen genussvoll geschlürft, feste Speisen mit Stäbchen gegessen. In Frankreich wird eine Baguette nicht geschnitten, sondern gebrochen. In Spanien dauert eine Mahlzeit nicht nur länger, sondern beginnt auch später: das Mittagessen am Nachmittag, das Abendessen in der frühen Nacht. Und, und, und.
Ein Hoch auf die kulturelle Vielfalt! Als Kinder hätten wir daran viel Spass gehabt. Und vor Aufregung bestimmt einen Gutsch Suppe verschüttet.
* Ivo Bachmann ist Geschäftsführer von bachmann medien ag, die auch das Visit redaktionell begleitet. Er war zuvor unter anderem Chefredaktor des «Beobachters » und der « Basler Zeitung ».
Bild: Schweizerisches Sozialarchiv