Von Ivo Bachmann*
Wir waren ein wilder Indianerstamm, ein gutes Dutzend tapferer Krieger. Mit Pfeilbogen, Tomahawks und Indianermessern verteidigten wir unser Apachenland, den kleinen Mischwald nordöstlich vom Dorf. Der Feind war in Sichtweite – eine Räuberbande feiger Bleichgesichter. Sie beanspruchte den Fichtenwald nordwestlich des Dorfes. Wir schlichen durchs Unterholz, wagten uns hinaus in die Prärie und wollten eben mit Geheul ins Feindesland stürmen, als ein schwarzes Pferd schnaubend aus dem Dunkel der Fichten schoss. An seinem Sattel hangelte der Anführer der Räuberbande, bedrohlich mit einer alten Schrotflinte fuchtelnd. Hinter ihm rannten zwei Dutzend Bleichgesichter, bewehrt mit giftigen Steinschleudern. Der Kampf war heftig, aber rasch entschieden. Mit einigen dicken Beulen traten die Apachenkrieger den Rückzug an.
Über die folgenden Rachefeldzüge schweigen wir lieber – wie auch über so manch anderen Streich, den wir damals ausheckten. Denn längst hat sich über diesen Marterpfahl unserer Jugendsünden der Schleier des Vergessens gelegt. Als sich Freund und Feind Jahrzehnte später zu einer Klassenzusammenkunft trafen, war die Stimmung jedenfalls fröhlich und friedlich. Indianer und Bleichgesichter lagen sich in den Armen. Schädel brummten nur vom Alkohol.
Die Kunst, zu vergessen: Sie macht unser Leben erträglich. Würden wir uns unentwegt an all die peinlichen, traurigen, schrecklichen Momente erinnern – jeder Tag im Leben wäre eine Qual. Wären unsere Gehirnwindungen vollgestopft mit unnötigen Erinnerungen, fehlten uns der Blick aufs Wesentliche und der Raum fürs Neue. Die heutige Forschung bestätigt nämlich, was schon Rainer Maria Rilke ahnte: «Es ist wichtig, sich zu erinnern. Noch wichtiger ist, zu vergessen.»
«Vergessen hat einen guten Sinn», erklärt der Solothurner Psychologe Peter Gasser: «Wir können von Unwichtigem absehen, uns Relevantes bewusst einprägen, Nebensächliches ignorieren oder gar Unangenehmes vergessen und hinter uns lassen.» Und glücklicherweise verblassen die unangenehmen Erinnerungen in der Regel rascher als die angenehmen: «Wir bekommen den Eindruck, früher sei alles besser, schöner, gemächlicher … gewesen.» Positive Erfahrungen «überschreiben» die negativen, glaubt Gasser.
Doch wie funktioniert dieses Vergessen genau? Welche Gehirnsubstanzen sind daran beteiligt? Lange meinte die Neurowissenschaft, das Vergessen sei ein passiver Prozess – ein Nebeneffekt des Lernens. Dann aber kamen Gedächtnisforscher zum gegenteiligen Schluss: Das Gehirn betreibt viel Aufwand, um Erinnerungen zu löschen. Verantwortlich dafür sei eine ganze Kaskade von Proteinen, berichtet Katrin Blawat in der «Süddeutschen Zeitung». Forscher der Universität Peking glauben gar, die Schlüsselsubstanz gefunden zu haben, die am Anfang dieses Vorgangs steht: das Protein Rac. Es soll Erinnerungen löschen, die nicht ständig aufgefrischt werden. Und es soll helfen, alte Erinnerungen durch neue Informationen zu ersetzen. Das hätten Experimente an Fruchtfliegen gezeigt. Andere Wissenschaftler laborierten an Fadenwürmern und entdeckten das sogenannte Musashi-Protein, welches in den Synapsen des Gehirns angeblich den Vorgang des Vergessens steuert.
Vermutlich werden uns Rac und Musashi auch diese Erkenntnis aus der Welt der Fliegen und Würmer rauben. Was solls. Freuen wir uns, dass uns die Gabe der Erinnerung, aber auch die Kunst des Vergessens bleibt, auf welche Weise auch immer. Und dass wir dank dieser Fähigkeit so manches Kriegsbeil begraben – nicht nur im Land der Apachen.
Peter Gasser: Abschied vom Gewussten – Die «Kunst des Vergessens» aus neuropsychologischer Sicht; DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, 2012.
* Ivo Bachmann ist Geschäftsführer von bachmann medien ag, die auch das Visit redaktionell begleitet. Er war zuvor unter anderem Chefredaktor des «Beobachters » und der « Basler Zeitung ».
Bild: Schweizerisches Sozialarchiv