Goldene Zeiten: Die Psychosen der Grossväter

Von Ivo Bachmann*

«Jesses, dä het ja roti Hoor!» So soll Grossmutter Josefa meine Geburt kommentiert haben. Sie war am Kindbett die einzige Vertreterin meiner grosselterlichen Genspender. In ihrer Generation gab es das sanft gewellte blonde Haar oder die verspielt gelockte braune und schwarze Haarpracht. Aber kupferrote Härchen? Das musste ein Wunder sein. Oder Schlimmeres.

Meine Grossmutter war damals schon seit Jahren Witwe, aber schwarz gekleidet wie beim ersten Trauertag. Eine gläubige Seele, pflichtbewusste Hausfrau und gütige Mutter. Und wohl auch eine liebevolle Grossmama. Jedenfalls verbindet uns eine süsse Form der Zuneigung: Wie mir meine Grossmutter eine Waffel aus ihrem Küchenschrank reicht – das ist das einzige Bild von ihr, das mir meine eigene Erinnerung schenkt. Ich war knapp drei, als Josefa in den Himmel stieg.

An Louisa, die andere Grossmutter, habe ich überhaupt keine Erinnerung. Sie starb Jahrzehnte vor meiner Geburt an Tuberkulose. Und auch zu den Grossvätern fehlt mir jede persönliche emotionale Spur. Lange bevor ich Geschichten schreiben konnte, waren sie beide längst Geschichte.

Der eine hiess Fridolin und war Wagnermeister – ein Mann mit handwerklichem Geschick. Kaum einer baute damals, so wurde erzählt, schönere Wagenräder und prächtigere Kutschen. Er soll mit den Jahren jedoch zunehmend eigensinnig geworden sein. Wenn zum Beispiel der wuchsfreudige Birnbaum auf der Wiese des Nachbarn den freien Blick aus seiner Wagnerwerkstatt zur Kirchenuhr trübte, schnitt er das wild wuchernde Astwerk kurzerhand kürzer. Altersstarrsinn oder Altersdemenz? Oder Hang zur Weitsicht? Wir wissen es nicht.

Der andere hiess Robert – ein strenger Vater und ziemlicher Rechthaber. Dass seine Söhne – meine Onkel – Polizist, Buchhalter oder Lehrer wurden, war wohl seinen Genen geschuldet. Grosspapa Robert schuftete in der damaligen Viscosi, die eigentlich Viscosuisse hiess und in ihren Fabrikhallen in Emmenbrücke Nylonstrümpfe für Europas Damenbeine produzierte. Manche seiner Kolleginnen und Kollegen kämpften damals für gerechtere Arbeitsbedingungen und traten 1918 gar in einen Generalstreik – doch solches Revoluzzerzeug wollte meinem Grossvater partout nicht in den Kopf. Er folgte seinem eigenen Kompass und war stolz auf sein Erreichtes – ein hübsches Heimetli ganz in der Nähe der grossen Fabrik.

Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge von einem Grossvater umarmt zu werden – das weiss ich deshalb leider nicht. Als jüngstes Kind einer grossen Familie hatte ich das Pech – oder auch das Glück – der späten Geburt. Und dennoch stecken sie bis heute je zu einem Viertel in mir drin, der eigensinnige Fridolin und der rechthaberische Robert. Wie prägten mich diese Vorfahren? Wie viele schwarze Murmeln haben sie mir weitergereicht? Und welche Charaktereigenschaften gebe ich selber – nun ebenfalls Grossvater – an meine Enkelkinder weiter?

Der französische Philosoph Gilles Deleuze (1925–1995) war der Meinung, von Vater und Mutter stammten die Neurosen, von Grossvater und Grossmutter die Psychosen. Die richtig tiefen Abgründe verdankten wir demnach den Grosseltern. Klar ist: Eine Handvoll ihrer Gene bleibt stets in uns drin.

Was sich hingegen ändert, ist die soziale Rolle, die man als Grossvater spielen darf. Inzwischen entdecken auch die älteren Herren den wirklich schönsten Job der Welt. Bereits jeder dritte Grossvater hütet wöchentlich seine Enkelinnen und Enkel. Diese heissen nun zum Beispiel Naomi und Malin und tragen noch je einen Sechzehntel Fridolin und Robert in sich. Als ihr Grossvater geniesse ich jede Umarmung mit ihnen. Auch wenn sie keine roten Härchen haben. Wie durch ein Wunder. Oder Schlimmeres.

* Ivo Bachmann ist Geschäftsführer von bachmann medien ag, die auch das Visit redaktionell begleitet. Er war zuvor unter anderem Chefredaktor des «Beobachters » und der « Basler Zeitung ».

Bild: Schweizerisches Sozialarchiv

 

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