Goldene Zeiten: Ein Glück für die AHV

Von Ivo Bachmann*

Bahnhof Brig, 25. März 1953. Zwischenhalt auf einer langen Reise. Koffer an Koffer gestellt, adrett gekleidet, den Blick vorsichtig zur Kamera gerichtet, warten Saisonarbeiter aus Italien auf die Weiterreise zu ihren Arbeitsorten in der Schweiz. Der Fotograf Hermann Freytag (1908–1972) hat diesen Augenblick eingefangen. Er war als Fotoreporter für Arbeiterorganisationen, aber auch für «Meyers Modeblatt» unterwegs. Nah am Geschehen, nah am Schicksal der Menschen. Wie hier, an jenem sonnigen Tag in Brig.

Es war kein Ruhmesblatt unserer Ausländer- und Sozialpolitik, das sogenannte Saisonnierstatut. Geschaffen wurde es 1931 im Kontext einer Migrationspolitik, die wirtschaftlichen Bedürfnissen folgte und gleichzeitig eine «ausländische Übervölkerung» verhindern wollte. Das Statut gewährte einer streng kontingentierten Zahl ausländischer Arbeiterinnen und Arbeiter den Aufenthalt in der Schweiz – je während einiger Monate im Jahr. Ein Wechsel des Wohnkantons oder des Arbeitgebers war verboten, ein Nachzug der Familie erst nach Jahren möglich. Die Saisonniers lebten monatelang von ihren Ehepartnern und Kindern getrennt. Und wer die Arbeitsstelle verlor, musste selber schauen, wie er weiter durchs Leben kommt: Der Zugang zur Arbeitslosenversicherung war lange verwehrt und auch später nur mit grossen Abstrichen möglich.

Die Saisonniers kamen vor allem aus Italien, dann aus Spanien und Portugal, aus dem damaligen Jugoslawien und aus weiteren europäischen Ländern. Sie bauten unsere Tunnels und Brücken, erstellten unsere Strassen und Häuser; sie dienten in Hotels und Restaurants, arbeiteten in Fabriken, schufteten zu Niedrigstlöhnen in der Landwirtschaft. Auch viele Pflegeheime und Spitäler wären ohne Hilfs- und Fachkräfte aus dem Ausland in Personalnotstand geraten.

Die Wohn- und Lebenssituationen der Saisonarbeiter waren häufig prekär. Tausende hausten in simplen Wohnbaracken an den Rändern der Städte oder übernachteten in engen Hütten direkt auf den Baustellen. Andere wohnten fernab der Städte in ungeheizten Zimmern oder in notdürftig zu Gastbehausungen umgebauten Ställen und Werkstätten. Eine «unwürdige und unmenschliche Situation» sei dies für viele Betroffene, kritisierten die Gewerkschaften.

«Volio restare con il mio Papà!» stand etwa auf einem Plakat, das ein kleiner Junge an einer Demonstration für die Abschaffung des Saisonnierstatuts an der Seite seines aus Italien stammenden Vaters vor sich her trug: «Ich will bei meinem Papa bleiben!» – ein rührender Appell für mehr Menschlichkeit in der Migrations- und Ausländerpolitik, zu entdecken in einem Kurzfilm des italienischen Filmemachers Alvaro Bizzarri aus dem Jahr 1972 («Lo stagionale»). Die Schweiz rief nach
Arbeitskräften, doch es kamen Menschen.

Erst 2002 wendete sich ihr Schicksal entscheidend. Mit der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU wurde das Saisonnierstatut abgeschafft. Seither können ausländische Arbeitnehmende zumindest aus der EU weitgehend uneingeschränkt ihr Arbeitsglück in der Schweiz suchen; sie werden auch nicht mehr unfreiwillig von ihren Familien getrennt.

Ein Segen für die betroffenen Menschen. Ein Glück aber auch für unsere AHV. Denn die Zuwanderung hilft nicht nur unserer Wirtschaft und prägt nicht nur unser gesellschaftliches Leben – sie finanziert zu einem bedeutenden Teil auch unsere AHV-Renten. Ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter zahlen bis anhin nämlich wesentlich mehr in die AHV ein, als Ausländerinnen und Ausländer als Rentenleistungen beziehen. Ohne Zuwanderung wäre unser wichtigstes Sozialwerk schon seit Jahren in Schieflage.

Alles hat zwei Seiten.

* Ivo Bachmann ist Geschäftsführer von bachmann medien ag, die auch das Visit redaktionell begleitet. Er war zuvor unter anderem Chefredaktor des « Beobachters » und der « Basler Zeitung ».

Foto: Schweizerisches Sozialarchiv

 

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