Goldene Zeiten: Erinnerungen an den Winter

Von Ivo Bachmann*

Ach, waren das noch Zeiten! Frau Holle schüttelte ihre Kissen, als gäbe es kein Morgen. Nächtelang fielen grosse weisse Flocken vom Himmel, tanzten vor den Doppelfenstern der Häuser, legten sich auf Bäume und Dächer, bedeckten Wiesen und Strassen. In manchem Kinderzimmer fiel vor Freude kaum ein Auge zu. Und tags darauf, zu früher Morgenstunde, hüpften wir aus den Betten, schlüpften in eine Skihose, zwängten Kopf und Arme durch den dicken Wollpullover und unsere Füsse in die handgestrickten Socken. Rasch noch eine Kappe über die Ohren gezogen und die Schnürsenkel der Winterschuhe gebunden – und hinaus ging es ins Paradies.

Fast knietief versanken wir im Schnee, zogen schwer schnaufend einen Schlitten durch die weisse Pracht oder schnallten uns die Holzskier, Marke «Schuss», unter die Füsse, um eine Spur zu unserer kleinen Piste am nächsten Hügel zu ziehen. Wir rollten mächtige Schneemänner und bauten prächtige Schneeburgen. Und waren wir mal richtig erschöpft, liessen wir uns rücklings in den Neuschnee fallen, schauten hinauf in das weiss verpuderte Astwerk der Bäume und in die endlose Weite des himmlischen Winters, ruckelten unsere Arme und Beine rauf und runter, hin und her und formten Engelchen in den Schnee. Erst ein Kribbeln und Zwicken in den Füssen – wir nannten es Chuenägele – zwang uns zurück nach Hause auf den wohlig warmen Kachelofen.

So war der Winter damals: Schnee in Hülle und Fülle, ein klirrend kaltes Paradies. Ein Schneepflug bahnte in frühen Morgenstunden kräftig rumpelnd den Weg durchs Dorf. Eisige Zapfen hingen von den Dächern. Tümpel und Weiher versanken unter dicken Eisschichten. Zuweilen waren auch grosse Gewässer verglast – wie im Winter 1963: Seegfrörni am Zürich- und am Bodensee, ein richtiges Volksfest! Sogar Klosterfrauen, so zeigen Bilddokumente aus jener Zeit, flanierten entrückt übers Eis.

Winter wie damals gibt es heute nicht mehr. Oder trügt die Erinnerung? War jede Schneeflocke einfach nur sehr viel bezaubernder – in jenen Wintertagen, als wir mit Kinderaugen die Welt entdeckten? Versanken wir nur deshalb so tief im Schnee, weil unsere Beine knapp zur Ofenbank reichten?

Auch ein Journalist der Berliner Tageszeitung taz ist diesen Fragen nachgegangen. Er erlebte seine Kindheit in einem kleinen Dorf im niedersächsischen Landkreis Göttingen – also ziemlich flach zur Erde, gut 200 Meter über Meer. Dennoch waren in seiner Erinnerung die Winter damals deutlich weisser – zuweilen richtig «streng», wie seine Mutter unter die Winterbilder in sein Fotoalbum geschrieben habe. Und heute? Seine eigenen Töchter hätten in den letzten zehn Jahren noch kaum je Schnee erlebt, klagt der Journalist. Er hat deshalb beim Wetterdienst nachgefragt. Ergebnis: Zwar gab es in den zehn Jahren von 1979 bis 1988 in seiner einstigen Heimat insgesamt über 600 Tage mit Schneedecke und in den Jahren 2010 bis 2019 nur noch knapp 400 – aber zwischendurch auch stets, damals wie heute, lange Wochen ohne jede weisse Wonne. Sein Fazit: «Meine Erinnerung täuscht ganz einfach. Die Tage mit Schnee, die ich mir in den Wintermonaten so gewünscht habe, haben sich zu langen, weissen, strengen Wintern verdichtet. Wunsch und Erinnerung sind eins geworden.»

Wissenschaftlich erhärtet ist: Die Erde erwärmt sich als Folge des weltweiten Klimawandels. Die jährlichen Durchschnittstemperaturen steigen, auch im Winter. Gleichzeitig häufen sich Wetterextreme. Durchaus möglich also, dass wir auch in laueren Wintern hin und wieder trotzdem noch im Schnee versinken – vielleicht sogar mehr, als uns lieb ist. Weil Frau Holle ihre Kissen schüttelt, als gäbe es kein Morgen. Ach, werden das noch Zeiten!

 

* Ivo Bachmann ist Geschäftsführer von bachmann medien ag, die auch das Visit redaktionell begleitet. Er war zuvor unter anderem Chefredaktor des «Beobachters » und der « Basler Zeitung ».

Bild: Schweizerisches Sozialarchiv

 

Visit bestellen