Von Ivo Bachmann*
Tante Louise war der erste Mensch, den ich in meinem Leben sah. Und dass ich dabei heftig zu schreien begann, das ist mir bis heute nicht recht. Denn es hatte nichts, wirklich gar nichts mit meiner Tante zu tun.
«Fahred Sie langsam, es pressiert!» Das pflegte Louise jeweils ihrem Taxichauffeur zu sagen, bevor der aufs Gaspedal drückte und sie zum nächsten Termin fuhr. Denn meine Tante war Hebamme. Ledig, tüchtig, pflichtbewusst. Nicht ängstlich, aber besorgt. In der einen Hand hielt sie den Hebammenkoffer, in der anderen Hand – wenn’s brenzlig war – einen Rosenkranz: So ging es zur nächsten Entbindung. Sei es früh am Morgen, sei es mitten in der Nacht.
Über 2000 Geburten hat «Fräulein Louise» begleitet. Auch ich verdanke ihr den gut umsorgten Rutsch ins Leben, als Hausgeburt, an einem frühen Morgen im April. Fünf Stunden soll die Prozedur gedauert haben, so ist der «Geburtstabelle der Hebamme» zu entnehmen. Rund drei Kilo brachte ich auf die Waage, knapp zehn Grad waren es im ungeheizten Zimmer. Aber es gab wohlig warmes Wasser, kuschelige Tücher, vertraute Stimmen. Und eine weiche Brust. An weitere Details erinnere ich mich leider nicht.
Das berufliche Wirken meiner (längst verstorbenen) Tante steht in einer langen Tradition. Bereits in biblischer Zeit soll es Hebammen gegeben haben, im alten Ägypten ebenso wie bei den alten Griechen und Römern. Hebammen waren hoch angesehen und wurden sogar in philosophischen Schriften zitiert.
Das änderte sich im Spätmittelalter, als zölibatsgeschädigte Inquisitoren eine Hexenverfolgungswelle auslösten und dabei auch die Hebammen unter kruden Verdacht stellten. Sie wurden als vom Teufel gefährdet betrachtet, weil sie «wertvolles Material für Hexerei wie Plazenta, Nabelschnur oder Neugeborenenschmalz leicht erhalten konnten»¹. Der Dominikaner Heinrich Kramer schrieb in seinem «Hexenhammer»²: «Keiner schadet der katholischen Kirche mehr als die Hebammen.» Der religiöse Irrsinn kostete ungezählte Menschenleben; auch Hebammen wurden auf Scheiterhaufen verbrannt.
Ab der Renaissance und der Aufklärung schenkte man dem Berufsstand wieder mehr Anerkennung, auch in der Schweiz. Einige Frauen wurden von kommunalen Behörden angestellt und erhielten eine Pension. Auch die Ausbildung der Hebammen wurde nach und nach an die Hand genommen; ein von Ärzten erteilter Unterricht fand erstmals 1554 in Zürich statt. Ende des 18. Jahrhunderts entstanden spezielle Schulen, so in Basel, Bern und Yverdon. Heute ist die Ausbildung gar akademisch – sie kann unter anderem an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur absolviert werden.
Rund 3000 Hebammen gibt es in der Schweiz. Die meisten arbeiten in einem Spital, einige in Geburtshäusern. Nur wenige entscheiden sich, freiberuflich tätig zu sein. Das hat seine Gründe: Die Ausbildung ist zwar beliebt – allein an der ZHAW gibt’s rund dreimal so viele Bewerberinnen (und ein paar Bewerber) wie Studienplätze. Doch die Löhne sind niedrig. Knapp 6000 Franken verdient eine Hebamme im Spital, eine selbständig tätige Kollegin oft weniger. Hinzu kommt das hohe Arbeitspensum vor allem frei praktizierender Hebammen; sie müssen rund um die Uhr erreichbar sein.
Eine bessere Entlöhnung wäre längst schon angemessen. Schliesslich übernimmt eine Hebamme bei jeder Geburt die Verantwortung für zwei Menschenleben – sie gewährleistet das Wohlergehen von Mutter und Kind. Ich bin sicher, meine Tante Louise sähe das genau so. «Fahred Sie langsam, es pressiert!», könnte sie den Gesundheitspolitikern nun zurufen – machen Sie vorwärts! Und ich würde nicht weinen.
¹ Erwin H. Ackerknecht: «Zur Geschichte der Hebammen».
Swiss Journal of the history of medicine and sciences,1974.
² Der «Hexenhammer» war ein Werk zur Legitimation der
Hexenverfolgung, erschienen 1486 in Speyer.
* Ivo Bachmann ist Geschäftsführer von bachmann medien ag, die auch das Visit redaktionell begleitet. Er war zuvor unter anderem Chefredaktor des « Beobachters » und der « Basler Zeitung ».
Foto: Schweizerisches Sozialarchiv